Claudia Fingerhuth
Kindheit und Jugend
Claudia Fingerhuth kommt am 31.05.1963 in West-Berlin zur Welt und wächst in einem Bungalow im Stadtteil Dahlem auf - gemeinsam mit ihren zwei Brüdern, ihrer Mutter, ihrem Vater und (nach der Scheidung der Eltern) mit ihrem Stiefvater. Die Mutter arbeitet zunächst als Sekretärin in Zeuthen, der Vater als Jurist in Magdeburg, bevor die Familie gemeinsam nach Berlin zieht.
Sport und Spiel sind von klein auf feste Bestandteile in Fingerhuths Leben. An den Vatertagen unternimmt sie mit ihren Geschwistern und ihrem Vater Ausflüge in die Natur und spielt Fußball. Sport ist nicht nur in ihrer Freizeit wichtig, sondern auch während ihrer Grundschulzeit in Dahlem. Der Sportunterricht wird zum Höhepunkt des Schultages, vor allem Ballsportarten begeistern sie. Während ihrer Schulzeit ist sie Mitglied im Basketballteam und spielt ab ihrem zehnten Lebensjahr Handball im Verein. Doch sobald der Wettkampfcharakter überwiegt, verliert sie das Interesse: Statt standardisierter Spielzüge und strukturiertem Training zieht sie das spontane, unvorhersehbare Spiel vor. In der Schule schreibt sie gute Noten, wird akzeptiert und zur Klassensprecherin gewählt. Ein wirkliches Zugehörigkeitsgefühl empfindet sie dennoch nicht immer. Oft wird sie aufgrund ihrer kurzen Haare für einen Jungen gehalten und auch ihre Interessen unterscheiden sich oft von denen ihrer Mitschülerinnen.
Rückblickend beschreibt Fingerhuth ihre Kindheit als Zustand permanenten Alarms.
zit. nach Gramann 2018, S. 270. und meint damit zum Beispiel die unkontrollierbaren Wutausbrüche des Vaters, die Depressionen und den Alkoholismus der Mutter und sexualisierte Gewalt durch ihren Stiefvater. Bereits als Kind übernimmt sie Verantwortung für ihre jüngeren Brüder und erledigt viele Aufgaben im Haushalt.
Claudia Fingerhuth
1987: Wendepunkt und Inhaftierung
Nach dem Abitur im Dezember 1982 verlässt Fingerhuth den elterlichen Bungalow und zieht in eine Wohngemeinschaft in der Oranienstraße in Berlin-Kreuzberg. Dort lebt sie mit schwulen Männern zusammen und beginnt zunächst eine Ausbildung im Bankwesen und ein Studium in Betriebswirtschaftslehre, das sie nach dem Grundstudium beendet. Gemeinsam mit ihrem damaligen Partner gründet sie neben dem Studium eine Tischlerei, muss diese aber 1987 nach der Trennung wieder aufgeben. Das Jahr 1987 sollte Claudia Fingerhuth aber auch politisieren und ihr Leben nachhaltig verändern: Mein Leben teilt sich in die Zeit bis 1987 und die Zeit danach.
zit. nach Gramann 2018, S. 104. Auslöser dafür sind die Ereignisse rund um die Mai-Demonstrationen in Berlin-Kreuzberg. Die Stimmung eskaliert, nachdem das Büro des Volkszählungsboykotts polizeilich durchsucht wird. Es kommt zu massiven Auseinandersetzungen zwischen der Polizei und Autonomen: Alles, was mal normal war, war nicht mehr.
Oral-History-Interview Fingerhuth, Clip 5, Zeitcode: ca. 00:04:48. erinnert sie sich. Die Spannungen enden nicht am ersten Mai. Am 11. Juni, sechs Wochen später und einen Tag vor der Großdemonstration gegen den Berlin-Besuch von Ronald Reagan wird sie auf ihrem Heimweg verhaftet. Der Tatvorwurf: schwerer Landfriedensbruch. Für zwei Monate kommt sie in Untersuchungshaft, zunächst isoliert im Hochsicherheitstrakt des Frauengefängnisses Plötzensee – ein Bereich, der ursprünglich für Gefangene der Bewegung 2. Juni eingerichtet worden war. Die einzige Person, die sie dort gesehen habe, war der Knastpfarrer, der war ganz toll.
Oral-History-Interview Fingerhuth, Clip 1, Zeitcode: ca. 00:13:18. erinnert sie sich. Zwei Wochen später wird sie in den regulären Haftbereich zu den anderen Häftlingen verlegt und arbeitet dort in der Gärtnerei.
Während der Haft erhält sie Briefe und Flugblätter von Unterstützer*innen und integriert sich nach ihrer Freilassung immer weiter in die Frauen- und Lesbenszene.
Claudia Fingerhuth
Aufeinandertreffen mit Inken Waehner
Während einer Kundgebung im Jahr 1987 lernt Fingerhuth ihre spätere Partnerin Inken Waehner kennen. Zwei Jahre später entscheidet sie sich, zu Waehner in die WG zu ziehen. Durch Waehner kommt Fingerhuth mit neuen Themen in Berührung: Wendo, Spiritualität, vor allem aber das Kickboxen. In diesem Zusammenhang taucht Fingerhuth tiefer in die Thematik struktureller sexualisierter Gewalt gegen Frauen ein und stellt sich erstmals die Frage: Ist das, was ich erlebe, wirklich individuell, oder kann ich es in einen größeren Zusammenhang mit anderen stellen?
Oral-History-Interview Fingerhuth, Clip 2, Zeitcode: ca. 00:04:28. Sie erkennt, dass meine Erlebnisse, mein Sein, meine Erfahrung, meine Lebensgeschichte, meine Schmerzen […] Politik ist.
Oral-History-Interview Fingerhuth, Clip 2, Zeitcode: ca. 00:04:38. In diesen Jahren kommt es auch zu ersten Coming Outs, sowohl bei Freundinnen als auch in ihrer Sportgruppe und bei ihren Eltern.
Claudia Fingerhuth
Kickboxen, Wendo und Arbeitsrhythmen
Der Einstieg in das Kickboxen erfolgt zügig. Innerhalb kurzer Zeit planen Fingerhuth und Waehner gemeinsame Trainings. Parallel setzt sich Fingerhuth auch theoretisch mit feministischer Selbstverteidigung auseinander. Feministische Selbstverteidigung bedeutet für Fingerhuth mehr als die reine Deeskalation von Konflikten, notfalls auch mit Gewalt. Teil der Praxis seien auch Wachsamkeit, ein sicheres Auftreten und klare Kommunikation. Fingerhuth und Waehner trainieren mehrmals wöchentlich Wendo und Kickboxen für verschiedene Auftraggeber*innen wie den Sportverein Seitenwechsel oder den AStA der Freien Universität. Zusätzlich arbeiten sie ab 1988 zweimal pro Woche in Putzjobs und geben Wochenendkurse sowie gelegentliche Kampfsportcamps. Von 1994 bis 1996 absolviert Fingerhuth eine Ausbildung zur Maurerin und arbeitet als Bauhelferin für Stattbau Berlin und später bei KirchBauhof. Nach einem Arbeitsunfall auf dem Bau kehrt sie nach einigen Wochen zurück. Kurz darauf kündigt sie und entscheidet sich für eine freiberufliche, selbstbestimmte Tätigkeit außerhalb fester Anstellungen.
Claudia Fingerhuth
Diagnose und die Anfänge von Lowkick
Im Jahr 1999 beginnt Fingerhuth ein Studium an der Freien Universität in Erziehungswissenschaften und Erwachsenenbildung. Während einer Reise nach La Graciosa entdeckt Fingerhuth einen Knoten in ihrer rechten Brust. Sie entscheidet sich zunächst gegen eine sofortige medizinische Intervention und lässt sich Zeit für die nächsten Schritte. Sie beobachtet den Knoten und lässt sich durch Maßnahmen der traditionellen chinesischen Medizin, Homöopathie und Osteopathie unterstützen. In den Jahren 2008, 2009 und fast das gesamte Jahr 2010 hofft sie, dass sich der Knoten von selbst zurückbildet. Parallel schreibt sie ihre Diplomarbeit und leitet weiterhin Trainingsgruppen – unter anderem in Deutschland, Thailand und auf Ibiza. Während der gleichen Reise nach La Graciosa, auf der sie erstmals den Knoten entdeckt, entwickeln Fingerhuth und Waehner außerdem die Idee eines feministischen Kickboxvereins, der 2009 unter dem Namen Lowkick e.V. - Selbstverteidigung und Thai/Kickboxen für Frauen und Mädchen gegründet wird. Die Idee für den Verein ist keine Neue: Schon seit Jahren feilen die beiden auf ihren gemeinsamen Reisen an seiner Entstehung und suchen sich Inspiration bei anderen Kampfsportvereinen. Die Trainingsumgebung ist lange nicht optimal: Jahrelang trainieren sie in Zwischenlösungen und transportieren Ausrüstung wie Boxhandschuhe von Sporthalle zu Sporthalle mit teilweise unzureichender Ausstattung. Einfach etwas Eigenes zu haben, das wäre schön!
Oral-History-Interview Fingerhuth, Clip 4, Zeitcode: ca. 00:09:33. wünschen sich Fingerhuth und Waehner. Der entscheidende Auslöser für die Gründung kommt dann 2009 sehr plötzlich. Nachdem ein wichtiger Trainingsraum für Fingerhuths AStA-Gruppen aufgrund von Sanierungsmaßnahmen wegfälllt und die Hallenschlüssel ausgetauscht werden, hat sie plötzlich keine Räume mehr.
Oral-History-Interview Fingerhuth, Clip 4, Zeitcode: ca. 00:07:54. Durch einen glücklichen Zufall finden sie schnell neue geeignete Räumlichkeiten, die innerhalb weniger Monate zu den Trainingsräumen des am 06.09.2009 gegründeten Vereins Lowkick e.V. ausgebaut werden.
Claudia Fingerhuth
Neue Lebensumstände
Als der Knoten in ihrer Brust 2010 anfängt zu schmerzen, unterzieht sich Fingerhuth einer Operation, bei der neun Lymphknoten entfernt werden. Die Diagnose lautet: ein bösartiger Tumor. Ihr werden sämtliche schulmedizinische Behandlungstherapien empfohlen, darunter Hormontherapie, Chemotherapie, Bestrahlung und Antikörpertherapie. Die Entscheidung fällt ihr nicht leicht: Sie ist eine lange Zeit nicht bereit, mich dem schulmedizinischen Diskurs zu stellen.
Oral-History-Interview Fingerhuth, Clip 5, Zeitcode: ca. 00:02:35. In Absprache mit ihrer Ärztin entscheidet sich Fingerhuth schließlich für eine Chemotherapie und Antikörperbehandlung. Dabei bleibt sie offen für alternative Ansätze und versucht, die schulmedizinische Behandlung mit anderen Methoden zu ergänzen. Fingerhuth arbeitet neben der Chemotherapie weiter: Im September 2011 reicht sie ihre Diplomarbeit ein, arbeitet im Büro von Lowkick und gibt weiterhin Trainings. Ihre Diagnose teilt sie offen mit ihren Gruppen und Mittrainerinnen. Das sei im Prinzip meine Hauptentscheidung. Dass ich mich nicht zurückziehe, sondern, dass ich alle damit konfrontiere.
Oral-History-Interview Fingerhuth, Clip 5, Zeitcode: ca. 00:00:30. Sie versucht weiterhin die Gegenwart zu genießen und wünscht sich: Das was ich gerne mache, das möchte ich jetzt auch machen.
Oral-History-Interview Fingerhuth, Clip 4, Zeitcode: ca. 00:18:58. Konstant präsent in ihrem Leben bleiben die Bewegung und der Sport. Das Angebot bei Lowkick wird ausgeweitet und umfasst neben dem Kickboxen auch Yoga, Konditionstrainung, Wendo, Thaiboxen, Rückentraining, Tai Chi und Qi Gong. Die Angebote richten sich an Menschen, die gesellschaftliche Erfahrungen als Frauen machen.
Lowkick e.V.: Über uns. Verfügbar unter: https://lowkick-berlin.de/ueber-uns (Zugriff am 12.06.2025). Die Kategorie „Frau“ werde daher für alle Mitglieder verwendet, ohne dass es gleichzeitig zu einer Einengung innerhalb des Konzepts kommen solle.
Seit der Gründung von Lowkick steht nicht der Leistungs- oder Wettkampfsport im Fokus, sondern das gemeinsame Training auf Augenhöhe. Der Leitsatz des Vereins lautet: „Du musst keine geborene Kämpferin sein, um mit uns zu trainieren.“ Fingerhuth möchte auch in Zukunft weitere Trainings geben, denn: Für sie ist immer wichtig, viel das tun, wo mein Herz mich hinzieht.
Oral-History-Interview Fingerhuth, Clip 5, Zeitcode: ca. 00:19:16.